Stellungnahme zur Initiative gegen Masseneinwanderung

Der wirtschaftliche Erfolg der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union ist spektakulär. Sinnvolle Korrekturen bei den Feineinstellungen sind immer möglich. Aber ein radikaler Kurswechsel wäre eine grosse Dummheit.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten ein Restaurant eröffnet. Tagtäglich würden mehr Gäste kommen. Alle Tische wären stets belegt, manchmal warten die Gäste schon beim Eingang, bis ein Platz frei wird. Würden Sie – vom täglichen Andrang genervt – in Erwägung ziehen, den Vertrag, der ihnen die allermeisten Gäste bringt, zu kündigen und damit riskieren Ihr florierendes Geschäft in ein kriselndes zu verwandeln?

Darauf scheint die Argumentation doch hinauszulaufen: Das Gedränge in der S-Bahn hat zugenommen, also weg mit den deutschen Aerzten, Ingenieuren und Buschauffeuren, kein Zutritt mehr für ungarische EDV Spezialisten, irische Krankenschwestern und portugiesische Bauarbeiter.

Vom Symptom zu den Ursachen

Es ist interessant, wie intensiv man sich mit den Zahlen befasst, wie viele kamen 2012, oder 2013, und wie selten man sich mit der wichtigsten Frage überhaupt auseinandersetzt: Wieso finden die Zugewanderten fast alle eine Stelle und weshalb können diese Stellen nicht mit Einheimischen besetzt werden? Die Antwort ist klar: Es gibt einen Facharbeitermangel in der Schweiz. Und der ist die eigentliche Ursache der Zuwanderung. Es ist offensichtlich, dass die Schweiz ohne diesen Zustrom ein noch viel grösseres Problem hätte. Ohne Personenfreizügigkeit hätten wir ein japanisches Szenario, d.h. 20 Jahre Nullwachstum und Roboter in den Altersheimen, mit welchen versucht wird, die vereinsamten Bewohner notdürftig bei Laune zu halten.

Warum fehlen uns die Fachkräfte?

Vier Faktoren nehmen Einfluss auf unsere hausgemachte knappe Personaldecke.

  1. Demographie. Die einheimische Bevölkerung befindet sich in einem Schrumpfungs- und Alterungsprozess. Die Zuwanderung von ca. 30‘000 Arbeitskräften pro Jahr ist nur schon notwendig um diese Lücken auszugleichen.

  2. Bildungspolitik: Dass die Schweiz es zugelassen hat, dass wir z.B. bei Spitalärzten, Operationsschwestern und Ingenieuren dermassen zu wenig eigene Leute ausgebildet haben, ist ein Versagen der Bildungspolitik. Hat aber auch mit der freien Berufswahl zu tun.

  3. Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Würden die Frauen – so wie es die SVP will – zuhause bleiben, bräuchten wir noch mehr ausländische Fachkräfte. Die gute Ausbildung der Schweizer Frauen ist ein Potential, das besser genutzt werden sollte und könnte.

  4. Gegenseitigkeit: 435‘000 Schweizerinnen und Schweizer leben, arbeiten oder studieren in einem EU Land. Dieser Austausch ist also keineswegs einseitig. Auch Schweizer Fachkräfte werden offensichtlich benötigt, um Minergiehäuser in Amsterdam zu bauen oder die Verkehrsprobleme von Stuttgart zu lösen. Wir befriedigen also deren Bedarf und sie unseren, zum gegenseitigen Nutzen.

Länder und Firmen werben um Fachkräfte

 In welcher Welt leben eigentlich die Initianten? Um Fachkräfte wird weltweit gekämpft. Luxemburg ist attraktiv, ebenso Singapur, Paris, London. Deutschland hat massiv aufgeholt, deshalb kehren viele Deutsche auch zurück. Im Osten erleben wir den Aufstieg Polens und des Baltikums, beide profitieren vom Zustrom an gut ausgebildeten Ukrainern und Russen. Akademiker aus Italien und Spanien arbeiten in französischen Laboren. Google, Samsung, Sony oder SAP, die Firmen des digitalen Zeitalters, fahnden weltweit nach den besten Köpfen, um sie für sich zu gewinnen. Fachkräfte sind zum wichtigsten Rohstoff überhaupt geworden. Und die Schweiz, die sich in diesem Rennen bisher recht gut gehalten hat, stimmt darüber ab, neue Zäune und Hürden zu errichten.

Eigentlich ist es undenkbar, dass eine solche Initiative angenommen wird. Gehen Sie aber auf Nummer sicher und vergessen Sie nicht Ihre Nein-Stimme vor dem 9. Februar abzugeben.

Dieser Artikel erschien im Anzeiger von Wallisellen vom 16.1.2014